Endlich ist es so weit! Wir stehen am Rand eines dichten Urwaldes, den kaum ein Mensch je betreten hat. Das Sonnenlicht reicht nur wenige Meter auf dem schmalen Pfad vor uns. Was dahinter liegt, lässt sich von hier aus nur erahnen. Der Aufbruch zu einer Entdeckungsreise in den Dschungel, wo verborgene Schätze und versteckte Gefahren auf uns warten, steht direkt bevor. Alle sind euphorisch, gespannt, aufgeregt und ein bisschen nervös. Die Gruppe formiert sich, scharrt ungeduldig mit den Stiefeln. Der Expeditionsleiter hält eine kurze Aufbruchsrede und endet mit den Worten: „Es geht los. Ihr wisst, was zu tun ist.“

Auf das Kommando verbinden sich alle die Augen und beginnen vorsichtig tastend ihren Weg ins grüne Dickicht.  Leises Fluchen beim Versuch sich zu orientieren. Eine Teil-nehmerin hört einen dumpfen Schlag. Ist der Nebenmann gegen einen Baum gelaufen?  Kurz darauf streift etwas ihr Gesicht. Was war das?  Hinter ihr ein spitzer Schrei. Wurde etwa jemand gebissen? Ist in etwas hineingetreten?  Sie wird immer unsicherer. Es geht frustrierend langsam voran. Man stolpert ineinander, entschuldigt sich verschämt. Wissen die anderen eigentlich, wohin wir gehen? Drehen wir uns im Kreis?  „Warum tragen wir Augenbinden?“ fragt die junge Abenteurerin schließlich leise. „Das machen wir schon immer so,“ antwortet jemand hinter ihr. Diese Antwort erscheint ihr nicht ausreichend. „Aber wir sehen doch gar nichts!“  „Brauchen wir auch nicht,“ zischt es von rechts vorne. „Und jetzt Ruhe, das wird nicht diskutiert.“ 

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„Intuition gibt es nicht.“ Die Worte hallen im Besprechungsraum nach. Die Entwicklerin rutscht verlegen auf ihrem Stuhl hin und her. Offensichtlich bereut sie ihren enthusiastischen Vorschlag, in der Entdeckungsphase der Innovation mehr auf ganzheitliches Denken zu setzen und auch intuitive Erkenntnisse zuzulassen. Der Forschungsleiter, der die Aussage eben voller Überzeugung von sich gegeben hat, lächelt milde und selbstzufrieden. Während sie noch überlegt, was sie entgegnen könnte, fährt er fort: „Und außerdem halte ich überhaupt nichts davon.“ Offensichtlich ist das Meeting damit beendet. Man verabschiedet sich und geht auseinander. 

Diese Situation, die sich vor einigen Jahren tatsächlich so abgespielt hat, illustriert die Praxis in vielen Unternehmen: Man setzt in der Innovation – auch in der Frühphase – ausschließlich auf den rationalen Verstand. Die Auswirkungen ähneln denen, die ein Expeditionsteam erlebt, das sich mit verbundenen Augen in den Dschungel begibt. Ein großer und entscheidender Teil an Informationswahrnehmungen wird völlig ausgeblendet und damit die Möglichkeit vertan, das Gesamtbild zu erkennen.  

In einem gewohnten Umfeld wie einem Büro oder Labor ist das kein Problem. Dort herrscht eine künstlich geschaffene Ordnung, alles steht immer am selben Platz. Es gibt Abläufe und Prozesse, die es erlauben, sich mit schlafwandlerischer Sicherheit fortzubewegen, ohne über etwas zu stolpern oder sich den Kopf anzuschlagen. Zu entdecken gibt es hier ohnehin nicht viel Neues. In einer unbekannten und unerforschten Umgebung hingegen, die sich noch dazu ständig verändern kann – sei es durch Witterung, andere Lebewesen oder Vegetation – sind wir aufgeschmissen, wenn wir nicht unsere volle geistige Kapazität nutzen, um Kontext zu unseren Wahrnehmungen herzustellen, in ihnen Bedeutung und Sinn zu erkennen und daraus angemessenes Handeln abzuleiten. 

Wenn also im Urwald gilt „Augen auf!“, dann gilt in der frühen Phase der Innovation „Intuition an!“ 

Der Begriff Intuition leitet sich vom lateinischen Wort intueri (genau hinsehen, anschauen, nach innen schauen) ab und beschreibt die Fähigkeiten Einsichten zu gewinnen und Entscheidungen zu treffen ohne den diskursiven Gebrauch des Verstandes, also ohne bewusste Schlussfolgerungen. Wir alle kennen sie aus eigener Erfahrung, ob als Bauchgefühl, Gespür, Ahnung oder Geistesblitz. Sie ist ein essenzieller Bestandteil unseres Lebens und vor allem jeder kreativen Entwicklung. 

Gerade in komplexen, unübersichtlichen Situationen ist Intuition unserem linearen Denken überlegen, da wir mit ihr nicht nur weit mehr Eindrücke aufnehmen, sondern sie auch wesentlich schneller verarbeiten können. Wahrnehmung und Verarbeitung geschehen dabei weitgehend unbewusst, bewusst wird uns lediglich das Endergebnis. Und genau damit scheinen wir uns in einer von den Errungenschaften der Aufklärung geprägten Kultur schwer zu tun: 

  • Wie viele Innovationsprojekte werden schon in der Konzeptphase aufgegeben, weil es keine Kundendaten dazu gibt? Da kann die Marketing-Expertin noch so stark den großen Erfolg wittern, sie bekommt häufig nicht einmal das Budget, um ihren Riecher für den zukünftigen Markt zu überprüfen. Im Zweifel stellt sich ihre Intuition erst dann als richtig heraus, wenn der Mitbewerber das Konzept umsetzt und damit Umsatzrekorde einfährt. 
  • Nicht viel besser ergeht es dem Innovationsmanager, der bei einer technischen Anpassung im neuen Produkt, die aus wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wird, allergrößte Bauchschmerzen hat. Da die Entscheidung rechnerisch einwandfrei begründet und damit bereits gefallen ist, beißt er sich auf die Zunge und hofft das Beste. Kaum im Markt, stellen bereits die ersten Kunden fest, dass diese Lösung nicht einmal ansatzweise hält, was sie verspricht. Der Launch wird ein riesiger Flop.   
  • „Ich kann es nicht begründen, aber ich habe da so ein Gefühl.“ Mit einer solchen Aussage geben wir uns in der Arbeitswelt in den meisten Fällen der Lächerlichkeit preis. Was nicht belegbar und rational nachvollziehbar ist, wird meist ignoriert. 

Komplett konträr dazu sind allerdings ernst zu nehmende jüngere Forschungsergebnisse. „Wir sollten auf unsere Intuition vertrauen, wenn wir über Dinge nachdenken, die schwer vorherzusagen sind und über die wir wenig Informationen haben,“ schreibt der Psychologe Prof. Dr. Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, als Fazit in seinem Buch Bauchentscheidungen. 

Genau so stellt sich der Dschungel der Frühphaseninnovation dar. Wir wissen wenig, und das Gesamtbild ist komplex. Das kann leicht verunsichern und dazu verleiten, Sicherheit in der vermeintlichen Verlässlichkeit der rationalen Verarbeitung von Fakten zu suchen.  

Zu finden ist sie dort aber nicht, sondern vielmehr da, wo Viele sie am wenigsten vermuten. Gigerenzers jahrzehntelange Forschung hat gezeigt, dass in Szenarien, die die Zukunft betreffen, intuitiv angewendetes gesundes Halbwissen wesentlich erfolgreichere Entscheidungen hervorbringt als ein hohes Maß an Wissen. Das klingt zunächst überraschend. Ein einfacher Grund dafür ist laut Gigerenzer, dass bestehendes Wissen sich immer auf die Vergangenheit bezieht und damit auf Umweltstrukturen, die sich dynamisch verändern können, also in Zukunft möglicherweise nicht mehr gültig sind. Als besonders erfolgreich haben sich in solchen Szenarien Entscheidungen erwiesen, die von Mehreren gemeinsam getroffen wurden. „Die kollektive Intelligenz, die auf individuellem Unwissen beruht, kann sogar Expertenwissen übertreffen,“ stellt Gigerenzer fest. 

Viel besser als Intuition komplett außen vor zu lassen, wäre es also sie zu nutzen – und zwar nicht anstatt unseres rationalen Verstands, sondern in Ergänzung dazu.  

„Anschalten“ müssen wir unsere Intuition übrigens gar nicht. Es gibt zwar Möglichkeiten einen intuitiven Flow zu befördern (dazu mehr in den kommenden Dschungelgeschichten), aber meist reicht es schon, sie nicht zu verdrängen oder zu übergehen. 

Das Abnehmen der Augenbinde im Frühphasendschungel kann also recht einfach sein. Wenn wir unserer Intuition besser zuhören wollen, dann müssen wir ihre Sprache verstehen. Sie äußert sich auf vielfältige Arten, vom unangenehmen Gefühl über das sichere Gespür, zum klaren Bild oder der plötzlichen wissenden Einsicht. Wenn es uns gelingt, diese Botschaften (wieder) wahrzunehmen und ernst zu nehmen, dann können wir auch (wieder) lernen ihnen zu vertrauen. 

Die simpelste Art, diese Entwicklung zu unterstützen ist ein Intuitionsnotizbuch. Wählen Sie am besten ein kleines Format, das sie immer bei sich tragen können. Notieren Sie alles, was Sie für intuitive Wahrnehmungen halten. Schreiben Sie auf, was Sie wahrnehmen und auch Ihre Interpretation dieser Intuition – aber nur, wenn Sie spontan eine haben. Was wollte Sie Ihnen sagen? Welche Handlung leiten Sie daraus ab? Wichtig dabei: Analysieren Sie nicht zu viel. Verlassen Sie sich auf Ihre ersten, spontanen Gedanken und notieren Sie diese. Nach einigen Tagen bis Wochen können Sie Ihre älteren Notizen noch einmal prüfen und evaluieren, welche der „Eingebungen“ hilfreich waren und inwiefern. 

Welche Arten von Intuition es gibt, wann sie uns am meisten helfen, und wie wir sie in der frühen Innovationsphase am besten nutzen können, darum geht es in unserer nächsten Dschungelgeschichte. 

Welche Erfahrungen und Erlebnisse haben Sie mit Innovation und Intuition? Wir freuen uns über Ihre Beiträge – unter dschungel@five-is.com