Auf der Agile PEP Minds in Berlin trifft sich Jahr für Jahr das Who-is-Who der agilen Entwicklung physischer Produkte. Aus der Perspektive eines Innovations-Experten, der aus der „alten“, klassischen Stage-Gate Welt kommt und gerade in die Agile Community hineinwächst, stellt sich mein Konferenz-Rückblick wie folgt dar.

Die Kurz-Zusammenfassung
• Vertreter der akademischen Welt haben mit frischen Studien nachgewiesen, dass agiles Entwickeln gute Resultate bringt und somit eine Daseinsberechtigung hat.
• Unternehmensvertreter haben berichtet, dass die agile Transition bei ihnen in vollem Gange ist, das Etablieren des „richtigen Systems“ aber so seine Tücken hat, und sie noch ein Stück Weg vor sich haben.
• Berater haben vermittelt, dass sie wissen, wie die agile Transition erfolgreich wird, und wie man Schwierigkeiten und Fallgruben umgehen kann.

Die inhaltlichen Höhepunkte

• Ja! Agiles Entwickeln erzielt sehr gute Ergebnisse …
Praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Vorteile des agilen Entwickelns primär in weichen Faktoren, wie z.B. Transparenz, Motivation der Teammitglieder, Kommunikation im Team liegen. Bei harten KPIs wie Durchlaufzeit des Projekts oder Entwicklungskosten bleibt agiles Entwickeln noch hinter den Erwartungen zurück. Über die Zeit werden die weichen Faktoren die direkt messbaren Ergebnisse positiv beeinflussen – so die Vermutung.
… aber verglichen womit? Die Agile Community wähnt im Wettstreit mit der „klassischen“ Art der Neuproduktentwicklung. Beinahe jeder Impuls, ob Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen oder Erfahrung aus der Praxis, wird zur Innovationspraxis von vor X Jahren in Bezug gesetzt. Agile ist besser als die klassischen Methoden! Das ist die Botschaft. Ich würde diese Aussage unterschreiben, wenn klar wäre, was die klassischen Methoden sind. Wasserfall, V-Modell, Stage-Gate, Gantt-Planung, Projektmanager, etc. tauchen als Begriffe auf. Wie genau neue Produkte klassisch entwickelt wurden, welche Methoden und Spielregeln vorgegeben waren, und mit wie viel Disziplin diese angewendet wurden, findet nicht einmal in den wissenschaftlichen Studien Beachtung. Schade!
Ich denke, der Wettstreit agil (neu) vs. klassisch (alt) ist gar nicht notwendig. Das Einführen agiler Methoden und Haltungen kann die Innovationsperformance verbessern. Ob dies einfach nur daran liegt, dass Spielregeln wieder diszipliniert eingehalten, seit Jahrzehnten etablierte Methoden wie Kundeneinbindung und Prototypen-Tests wieder aufgefrischt oder neue Arbeitsweisen wie z.B. Retrospektiven nach jedem Sprint eingeführt werden, spielt im Grunde keine Rolle. Fakt ist: Die Innovationsfähigkeit fast aller Unternehmen steigt, wenn diese unter dem Titel „agiles Entwickeln“ ihr Innovationssystem überdenken und neu ausrichten.

• Agil ist super, aber nicht die heilsbringende Alles-Lösung
„Führe Scrum ein, ohne Kompromisse, ohne Hybrid, ohne Tal der Tränen – dafür mit Neuland Haftnotizen, das ist alles, was du für den Erfolg brauchst.“ Mit diesem nicht ganz ernst gemeinten Versprechen brachte ein Unternehmensberater die Lacher auf seine Seite. Fast allen Teilnehmern ist klar, dass die Welt nicht ganz so einfach ist.
Es wurde aber auch erzählt, dass mancherorts tatsächlich mit diesem Glauben Scrum eingeführt wird. Bestehende Systeme werden einfach mal abgeschafft. So sprach ein Vortragender davon, dass er die „Stage-Gates“ durch „System Days with Product Delivery“ ersetzt hat. Das Problem: es gibt keine Stage-Gates. Was er meinte, waren Gates. Und diese haben einen völlig anderen Zweck als die neu eingeführten System Days. Gates dienen primär dem Risikomanagement bei ungewissen Herausforderungen. System Days sollen für stakeholder-übergreifende Abstimmung des Produkts sorgen. Aus Unwissen wurde hier möglicherweise ein wichtiges Steuerungsinstrument der Scrum-Religion geopfert. Ich hatte den Eindruck, dass einige Akteure Begriffe wie Stage-Gate oder Wasserfall als Synonym für das alte, schlechte System nutzen, jedoch kaum etwas über diese Methoden wissen.
Dem überwiegenden Teil der Vortragenden und Teilnehmer war aber klar, dass agiles Entwickeln seine Stärken vor allem bei komplexen, noch unklaren Innovations-Herausforderungen ausspielen kann. Hierzu wurden das VUCA Modell wiederholt bemüht.

Als Erkenntnis bleibt: wir brauchen ein hybrides System, das je nach Herausforderungen eines Projekts den Einsatz der richtigen Methoden sicherstellt. Darüber hinaus muss ein projektübergreifendes Risiko- und Ressourcen-Management etabliert sein.

• Agil ist nicht gleich Scrum
Die meisten Unternehmen haben berichtet, dass sie sich mit Scrum auf den Weg zu einem agilen Unternehmen gemacht haben. Der Beitrag der Firma ASK Industries, und speziell jener von Frau Prof. Paetzold hat dazu aufgefordert, die Unterschiede der agilen Methoden genau zu beleuchten und zu überlegen, welche zu den Gegebenheiten und Herausforderungen des jeweiligen Unternehmens oder Projekts passen. So passt Scrum besonders gut, wenn wir erst während des Projekts viel über die Anforderungen an das neue Produkt lernen und es daher zu häufigen technischen Änderungen kommt. Kanban spielt seine Stärken aus, wenn wir bereits viel über die Bedürfnisse und Anforderungen wissen, es jedoch unzählige davon gibt. Design Thinking stellt den Innovationsaspekt neuer Produkte in den Mittelpunkt, während Xtreme Programming einen starken Qualitätsfokus hat.
Schließlich kommt die Sprache immer auch auf die Skalierbarkeit von agilen Methoden. Hierzu wurden Modelle wie SAFe, LeSS, Nexus, Scrum@ Scale oder Spotify Model ins Rennen geworfen. Bei der Auswahl der skalierenden Systeme gilt das gleiche: Genau drauf achten, welches am besten zur Situation und Herausforderung des Unternehmens passt.

• Wer darf / soll im agilen Reigen mitspielen?
Manche sehen die Anwendung agiler Methoden primär in der F&E-Abteilung bzw. in der „Entwicklungsphase“ eines Neuprodukt-Projekts. Die viel zitierte Interdisziplinarität bezieht sich dann meist auf unterschiedliche technische Disziplinen wie Mechanik, Elektronik und Software. Das Produktmanagement und manchmal Sales bekommen eine Rolle als Product Owner. Weitere Fachbereiche wie Einkauf, Qualität, Produktion laufen unter dem Begriff „Umfeld“. Spannend ist, dass in einer Studie der Hochschule Koblenz eben dieses Umfeld als eine der größten ungelösten Herausforderungen eines scrum-basierten Produktentwicklungssystems identifiziert wurde.
Das Unternehmen Erbe Elektromedizin scheint dieses Problem gelöst zu haben, indem sie für Produktinnovationen echte interdisziplinäre (Entwicklung, Produktmanagement, Fertigungsentwicklung, Einkauf, etc.) Projektteams mit 100% dedizierten Mitarbeitern bilden. Alle haben ihren Arbeitsplatz beim Team. Herausforderung der Fach-Mitarbeiter ist es, sich weiterhin mit ihrer Fachabteilung abzustimmen.
Die Rolle des Product Owners (PO) wirft auch immer wieder Fragen auf. In Scrum zeichnet dieser verantwortlich für das „WAS“, während das agile Team zuständig ist für das „WIE“. Dies sieht vor, dass der PO mit viel Überblick und guter Marktkenntnis die Eckpunkte eines neuen Produkts definiert, die konkrete Ausarbeitung aber dem verständigen agilen Team überlässt. Das Team soll die Vorgaben des PO „challengen“ und diese aufgrund von Erkenntnissen aus Iterationen mit Kunden bei Bedarf einer Änderung zuführen. Jedoch bestimmt nicht immer dieses Rollenverständnis die Innovationspraxis. Verkommt die Beziehung zwischen PO und Team zu einer Auftraggeber- vs. Abarbeiter-Rolle, besteht die Gefahr mit Scrum eine neue Ära des Silodenkens heraufzubeschwören (Lesen Sie dazu mehr unter diesem Link).

Fazit
• Auf der Methoden-Ebene besteht weitgehend Einigkeit, dass die agilen Werkzeuge die Projektarbeit positiv beeinflussen. Nicht alle Artefakte werden von allen gleich intensiv genutzt, hitzige Diskussionen werden darüber aber keine mehr geführt. Auf Methoden-Ebene hat die agile Hardware-Entwicklung einen guten Reifegrad erreicht.
• Auf der Organisations-Ebene herrscht deutlich mehr Diskussionsbedarf. Wie sieht das passende organisationale Umfeld für agiles Entwickeln aus? Brauchen wir 100% dedizierte Teams? Oder geht es auch anders? Wie funktioniert in einem agilen System Führung? Welche Rolle haben die bisherigen Linienführungskräfte? Gefühlt ist die Community hier gerade in der Findungsphase.
• Auf die Haltungs-Ebene (Mindset) wird zwar ab und an hingewiesen, eine fundierte Auseinandersetzung damit konnte ich jedoch nicht feststellen. Nach dem Motto „Haltung passiert schon, wenn wir genug am Umfeld schrauben“ wird mit diesem Thema noch recht unbedarft umgegangen. Möglicherweise werden wir uns auf der Agile PEP Minds 2022 verstärkt über Werte und Haltungen der Projektteams, POs und sonstigen Führungskräfte austauschen.
Sehr gut gefällt mir, dass eines der wichtigsten agilen Prinzipien sehr präsent ist, nämlich das Ausprobieren und laufende Verbessern. Björn Eberhard, der Konferenz-Vorsitzende, bezeichnet die Agile PEP Minds als jährliche Lern-Iteration für Anwender agiler Methoden. Diesem Anspruch wird die Veranstaltung gerecht. In diesem Sinne: weiter so!